IDEOLOGIE - so SEI Es


Basierend auf der Ideologiekritik über
Das Rote Wien




Inspiriert durch

Die Ideologiekritik
Louis Althussers und Slavoj Žižeks

Und die Architekturtheorie
Eve Blaus und Manfredo Tafuris





Ein fiktionaler Dialog
Von
Iklim Dogan





Charaktere
LOU
GRACE



ZeIt
Später Nachmittag an einem unbestimmten Tag



Ort
LOU und GRACE setzen sich auf den Vorhof des Karl-Marx-Hofes, wo die Bronzefigur von Bildhauer Otto Hofner steht. Sie teilen sich eine Bank, setzen sich weit voneinander entfernt hin, gegenüber der Fassade des Karl-Marx-Hofes, wo die sechs turmartigen Strukturen legen.

Sie beobachten ein Kind, das Sonne und Wolke auf der Fassade des Karl-Marx-Hofes zeichnet. Später zeichnet es auch das Symbol des Karl-Marx-Hofes. Danach zeichnen ein paar andere Kinder mit. Sie zeichnen gemeinsam Symbole. Sie streiten darum, wer am besten das Symbol zeichnen kann. Jedes Kind zeichnet eins. Eins zeichnet es mit manchen Blättern und Früchten darauf, ein anderes mit Flügeln, ein anderes zeichnet es über den Wolken, ein anderes mit Menschen Hand-in-Hand und eins zeichnet kleine Strichmännchen darunter.




Szene 1: Eine Begegnung mit dem Symbol


LOU schaut die zeichnenden Kinder an, GRACE sieht nach oben auf die Fassade des Karl-Marx-Hofes zu den Türmen. GRACE hat einen verzerrten Gesichtsausdruck.

GRACE
Das ist eine absurde Figur.
LOU
Wie bitte?
GRACE
Das Symbol des Karl-Marx-Hofes.
LOU
Meinst du die sechs turmartigen Strukturen?
GRACE
Hans Hollein machte sie zu einem „Symbol“. Ein Symbol für die Gemeindebauprojekte der zwanziger Jahre: Das rote Wien.
 LOU
Was meinst du damit „Hollein machte sie zu einem Symbol“?
GRACE
Kannst du dich nicht an die Ausstellung im Künstlerhaus 1985 erinnern? Wie hieß sie... Oh, „Traum und Wirklichkeit“ zwischen 1870 und 1930. Er baute das Symbol auf dem Dach des Museums auf, als so eine Art Oh Wien, O-la-la. Seitdem sieht es jeder als ein Symbol des roten Wiens.
LOU
Hmm… Ich glaube, es war noch schlimmer, als sie den Slogan „ein Kilometer Art déco“ als Tourismuswerbung in den 80er Jahren benutzten.

Sie halten einen Moment inne.

GRACE
Wie würdest du das Schicksal der großartigen Erscheinung des Karl-Marx-Hofes darstellen und gestalten?
LOU
Oh, Zauberberg. Lächelt. Naja, die Sozialdemokraten brauchten ihn. Erinnere dich an die Februaraufstände im Jahr 1934. Selbst die Rechten nannten ihn die Festung der Arbeiter: die Zelle organisierter Staatsstreiche.
 GRACE
Daran erinnere ich mich natürlich. Viele Teile der Wohnanlage wurden zerstört.
LOU
Eine Festung im Norden der Stadt, neben dem Bahnhof, wo die Armee der Linken ihre symbolische Struktur verteidigen konnte.
GRACE
Ein solcher Komplex, der das rote Wien symbolisiert, und das rote Wien selbst als das Symbol der Linken... Es wurde zur „Inkarnation eines ideologischen Konflikts.“ Die sozialistische Hauptstadt eines antisozialistischen Staates. (Cf. Blau 2014: 21)
LOU
Zwischen Festung und Art-déco.

Sie halten einen Moment inne.




Szene 2: Architektur und Politik


LOU und GRACE stehen auf, gehen 2-3 Schritte voneinander weg und dann wieder aufeinander zu. Sie setzen sich jeweils auf den Platz des anderen.

GRACE
Interessant. Hast du den ersten Entwurf für den Karl-Marx-Hof gesehen? Er war vom Architekten Clemens Holzmeister. Ich habe irgendwo gelesen, dass er sechs Monate lang daran gearbeitet hat und über die architektonischen Möglichkeiten sowie den Spielplatz, die Küche usw. nachgedacht hatte. Die Baubehörden fanden es „uninspirierend“.
LOU
Aber bezahlten sie ihn wenigstens für seine Arbeit?
GRACE
Lächelt. Ich weiß es nicht. Aber sein Plan sieht dichter und enger aus, er hätte mehr Platz für Häuser geschaffen. Er sieht eher wie ein Labyrinth mit weniger Umfriedung aus. Die Grundstücke füllten sich mit mehreren und kleineren Blöcken und hatten mehr Durchgänge.
LOU
Aha. Die Politik hat das letzte Wort.
GRACE
Und jetzt wurde dieses massive Gebäude, wie wir es vor uns haben, von Karl Ehn entworfen. Die Gebäude umfassen eine Fläche von fast 11.000 Quadratmetern, während die Höfe fast zehnmal so groß sind. Sie hätten einfach eine Gartenstadt mit der gleichen Fläche bauen können, weißt du. Das war damals auch ein Thema, oder?
LOU
Ja, das hätten sie tun können. Zeigt auf die Türme und spricht lauter. Aber wo hätten sie dann diese Türme bauen können? Stoppt. Sie brauchten Türme. Nickt. Sonst wäre es sinnlos gewesen.
GRACE
Ja. Aber es ist schwer zu verstehen. Warum diese Form für ein Gemeindebauprojekt? Wollten sie vom Anfang defensiv sein? Ich verstehe es nicht. Wie kann eine solche Form so viele Bedeutungen haben? Stoppt. Und die Kinder zeichnen nur das Symbol.
LOU
Alles, was sie sehen, ist dieses Symbol. Alles, was sie tun können, ist das Symbol zu zeichnen.
GRACE
Was meinst du damit?
LOU
Nun, weißt du, sie sehen es als etwas, das immer da war, dass immer zu erkennen ist. Sie haben sich daran gewöhnt, es nur als eine Form zu sehen. Eine Form ohne Bedeutung. So sehe ich das aber nicht, ich glaube nicht, dass es ein naives Symbol ist. Stoppt, langsam schaut ins Publikum. Es ist Propaganda des Austromarxismus.
GRACE
Hmm?
LOU
In einem ernsteren und lauteren Ton, als ob sie ein Manifest vorliest. Das Ziel des Austromarxismus war nicht Gartenstädte in Vorstädten zu schaffen, wie es damals in Deutschland gemacht wurde, sondern auf der Innenstadt neu aufzubauen: um die Stadt proletarisch zu bauen. Stoppt, schaut in die andere Richtung, dann in bedauerndem Ton. Aber der Karl-Marx-Hof ist mit seinem städtebaulichen Kontext nicht verbunden und ist daran gescheitert. Obwohl er die Ziele des Austromarxismus vertritt... Sein Programm und dessen Inhalte wurden nicht durchdacht.
GRACE
Nickt. Ich spüre deine Wut, aber ich stimme dir nicht zu, dass der Karl-Marx-Hof das Symbol des Roten Wiens ist. Ich denke, es ist ein schlechtes Beispiel für die Gemeindebauprojekte. Aber ich denke, dass sie innerhalb ihrer Bedingungen ihr Bestes gegeben haben ...
LOU
Unterbricht. Das ist nicht was ich meine. Die gegenseitige Abhängigkeit von Politik und Architektur, die ist gescheitert. Erinnere dich, was danach passiert ist.
GRACE
Die Abhängigkeit ... Denkt einen Moment nach. Ist die Architektur schuld daran, dass die Sozialdemokratie gefallen ist? Oder ist es die Schuld der Politik, dass die Architektur zum Scheitern verurteilt ist?
LOU
In einem belehrenden Ton. Wenn wir die architektonischen Epochen nicht in ihrer politischen Dimension denken, wenn wir denken, dass sie keinen Einfluss auf soziale Formationen haben, dann kann man argumentieren, dass Architektur und Politik zwei verschiedene Anliegen sind. Sie überschneiden sich nicht. Ich denke, das ist nicht plausibel. Ich glaube, dass sie sich gegenseitig beeinflussen und dass sie eine gemeinsame Basis haben: die Ideologie. Architektur in ihren Formen, Politik in ihrem Ausdruck ist die Darstellung von Ideologie. Man kann sagen, dass Politik eine Stimme hat und Architektur diese Stimme formt. Architektur bestimmt, wie laut und schrill die Stimme der Politik zu hören ist.
GRACE
Ideologie... Du hast das Wort wieder benutzt. Was willst du damit sagen? Auf eine sarkastische aber ernste Art hebt sie ihre Stimme, schaut ins Publikum. Sollten wir allen Architektinnen und Architekten die Verantwortung geben ideologisch zu sein? Sollten wir ihnen die Schuld dafür geben später für die Nationalsozialisten gearbeitet zu haben? Versuchen sie die Menschen mit ihren Formen einer Gehirnwäsche zu unterziehen?
LOU
Wirft einen wütenden Blick auf GRACE. Mach keine Verschwörungstheorie daraus. Das ist nicht das, was ich gesagt oder gedacht habe. Das hast du da jetzt viel zu schablonenhaft gesehen.

Sie halten einen Moment inne.

GRACE
Architektur und Politik ... Ich möchte dir zuhören, aber mein erster Gedanke ist, dass es nicht die Architektur ist, die mit diesen symbolischen Bedeutungen gefüllt ist, es ist das, was sozial und politisch geschieht, was sie mit Bedeutungen auflädt.

Sie halten einen Moment inne.




Szene 3: von den Höfen und den Ideologien


LOU steht auf, geht 1-2 Schritte. Schaut ins Publikum, dann fängt sie in einem erhöhten Ton zu Sprechen an, als ob sie ein Manifest vorliest.

LOU
Die traditionellen Konzepte von Formen oder die idealen Formen der Architektur sind Reflexionen von Klassenideologien: Reflexionen ihres "falschen Bewusstseins". Sie sind das Resultat ideologischen Verhaltens. Diese Ideologien müssen kritisiert werden, nicht mit dem Ziel, sie zu revolutionieren. Sondern mit dem Ziel, die intellektuellen Aufgaben der Architektur darzustellen, die ihr durch die kapitalistische Entwicklung entzogen worden sind. (Cf. Tafuri 1977, 8f.) Die Architektur braucht Selbstkritik, um ihren eigenen Charakter zu finden, um mit den neuen politischen und sozialen Herausforderungen zurechtzukommen.
GRACE
Verwirrt. Wie kommst du nun zu diesem Punkt vom Symbol des Karl-Marx-Hofes?
LOU
Dreht sich zu GRACE um. Versuch mal zu analysieren, was du zu diesem Symbol fühlst. Du könntest es aus einer solchen Entfernung nicht sehen, wenn der Vorhof, auf dem wir sitzen, nicht existieren würde. Ich meine, wenn es in einer engen Straße gegenüber anderen Wohnungen gelegen wäre. Niemand würde es erkennen. Es wäre dann nur eine Landschaft für die Menschen, die dort leben: eine Landschaft, auf die sie beim Kaffeetrinken auf dem Balkon schauen. Sein Triumph liegt in der Existenz dieses riesigen breiten Vorplatzes, auf dem wir uns befinden.
GRACE
Ich verstehe es nicht. Sprich weiter.
LOU
Es ist eine riesige Wohnanlage mit 4 geschlossenen Höfen durch die Heiligenstädterstraße und die Boschstraße. Nur dieser Vorhof, auf dem wir gerade sitzen ist nicht von der Straßenseite eingeschlossen. Er ist wie eine Vitrine, durch die man schauen kann. Und diese bogenartigen Öffnungen unter den turmartigen Strukturen sind riesig. Ich sage nur, wenn dieser Vorplatz auch geschlossen wäre, dann würden nur die Hofbewohner diese Türme sehen. So gibt es in den anderen Teilen dieser Art-déco-Festung 4 geschlossene Höfe. Stoppt. Geht zurück zu ihrem Platz, schaut nach oben, zeigt den Vorhof mit ihren Händen. Dieser Vorhof, diese Symbole können durch die Öffnungen hier in diesem halbgeschlossenen Hof triumphieren. Sie drängen dich, deine Position zu behalten, dich nicht zu bewegen. Für jemanden, der da wohnt, muss das ein ambivalentes Gefühl sein. Man fühlt sich erhöht und diszipliniert zugleich. Es schließt dich ein und aus.
GRACE
Dem stimme ich nicht zu. Höfe schaffen einen Garten der Kommunikation des Teilens. Ein Spielplatz für Kinder, eine sichere Umgebung. Sie sind die Erweiterung des Wohnzimmers. Sie sind perfekt. Es ist eine vertraute Struktur.
LOU
Sie sind ein Wunsch, ein Verlangen, ein Bedürfnis nach der Totalität, die in einer Festung verwurzelt ist.
GRACE
Die Hof-Struktur hat immer existiert, in verschiedenen Funktionen und in verschiedenen geschlossenen Räumen.
LOU
Lächelt hinterhältig. Ja? ... merkwürdig vertraut. Begeistert, schaut nach oben.
GRACE
 Wartet nachdenklich. Oder meinst du, diese Höfe haben etwas Besonderes?
LOU
Tatsächlich. Lächelt hinterhältig. Manfredo Tafuri hat sie nicht ohne Grund Zauberberg genannt, denn im Karl-Marx-Hof passiert genau folgendes: dieser anscheinend seit Jahrhunderten vertraute Hoftypus verwandelt die, die in ihm wohnen. Sie nehmen seine Ideologie an. Der Hof, in dem wir uns gerade befinden, ist eine Illusion. Eine Camouflage, ein Zauberberg, der seine materielle Realität in einem vertrauten Typus versteckt.
GRACE
Wirft einen verwirrten Blick.
LOU
Die Verzerrung liegt hier in der Vorstellung, die wir uns von architektonischen Formen machen. Wir reduzieren das Haus sofort auf die Funktion „schützende Hülle“.Die Funktion des Hauses erscheint hier als eine natürliche Eigenschaft des sogenannten Hofes, als ob der Hof schon an sich die vollkommen normale Wohnweise ist, die in sich unmittelbare materielle Realität des Wohnens ist.
GRACE
Ich habe es immer noch nicht verstanden.
LOU
Die Höfe sind vertraute, gewöhnliche Strukturen, an die man in ihrer Verkörperung und an dem, was sie symbolisieren, nicht wirklich gedacht hat. Vergleich es mit der Materialität des Geldes: das Papier. Wir denken nicht darüber nach, wenn wir Geld ausgeben. Wenn wir also in den Höfen leben, wissen wir sehr gut, dass es keine Zauberei in ihnen gibt. Jetzt nimm es als solches, versuche, seinen Kern zu analysieren, dann schaue nochmal auf diese Höfe und diese Türme.
GRACE
Denkt, spricht langsam. Du meinst, während ich Schutz für mich selbst schaffe...
LOU
Unterbricht GRACE, spricht lauter. Die Absurdität, in einem Turm zu wohnen. Es handelt sich ja um einen Zauberberg. Während du drinnen bist, denkst du nicht an den Turm. Du kannst dich über die Baupläne beschweren, die verzerrt wurden, um diese Bogenöffnungen zu erzeugen.
GRACE
Also, was du meinst, ist, dass ich mir der Materialität des Dinges, in dem ich wohne, nicht bewusst bin, während ich darin wohne.
LOU
Nein. Sondern dass du ein falsches Bewusstsein hast. Es ist dir natürlich bewusst, wie und wo du wohnst. Der Punkt hier ist, wie du es wahrnimmst. Genauso wie man nie über die materielle Qualität von Geld nachdenkt, während man es ausgibt. Es besteht eine Kluft zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir darüber denken.
GRACE
Wirft einen Blick, als wäre sie immer noch nicht überzeugt. Stoppt.
Aber die Frau auf dem Balkon dort direkt am Arm des Symbols Deutet mit dem Finger auf sie. sieht so aus als ob sie ihren Kaffee genießt.  Und wer weiß ob sie überhaupt noch die SPÖ wählt.

Sie lächeln beide, Stille für einen Moment.




Szene 4: Der Hof: seine Ideologie und Materialität


LOU beobachtet die zeichnenden Kinder, liegt ein bisschen auf dem Rücken, spielt mit ihren Füßen. GRACE nimmt ihr Handy aus der Tasche, scrollt nach unten, checkt ihre E-Mails, steckt es wieder in ihre Tasche und dreht ihren Kopf zu LOU.

GRACE
Du hast den Karl-Marx-Hof eben als Zauberberg kritisiert und dazu noch argumentiert, dass er gegen seinen städtebaulichen Kontext steht.
LOU
Ganz genau. Er ist nicht im Einklang mit seiner unmittelbaren Umgebung. Es ist wie mit dem Symbol. Er ist ein Individuum, das seiner Umwelt gegenübersteht. Wie ein Protagonist im Gegensatz zu anderen Charakteren in einem Buch. Er ist ein Individuum, und dazu hat er sogar architektonische und technische Mängel. Vielleicht funktioniert der Hof-Typus gut für andere Gemeindebauprojekte, aber hier in diesem epischen Maskottchen ist die Form des Hofes und des Blocks so monumental, dass ihr alles andere untergeordnet ist. Das politische Programm des austromarxistischen hartnäckigen Willens, diese Typologie beizubehalten, obwohl es Einschränkungen in den Grundrissen gibt. Und Probleme mit der Ventilation in den Wohnungen, die in den „Türmen“ liegen; und eine begrenzte Vorstellung davon, was das Leben im Kollektiv sein könnte. (Cf. Tafuri (ed.) 1977, p. 191.)
GRACE
Die Höfe, die ich sehe, sind in ihrer Form als architektonischer Typus erfolgreich. Der Karl-Marx-Hof wurde durch seine Form zur Verkörperung einer „Idee“. Daher mag er in seinen architektonischen Qualitäten wie in den Wohnqualitäten scheitern, aber durch seine elementaren Formen verkörpert er die Idee, nicht im Wohnen an sich. Er ist eine Ikone, statt schützende Hülle. Die traditionellen Typologien funktionieren als kulturelle Praxis, in welcher kulturelle Praktiken instrumentalisiert werden.
LOU
Verwirrt. Wie wird der Hof instrumentalisiert?
GRACE
Du übersiehst einiges. Der Hof steht seiner Umwelt nicht entgegen, weil er nämlich ein Teil davon ist. Indem Moment, indem er gebaut wird, wird er ein Teil seiner Umgebung. Die Idee, die er verkörpert verschmilzt mit seinem städtebaulichen Kontext und materialisiert sich in einem neuen radikalen politischen Wesen. Er hat ein Wesen, aber er steht nicht im Konflikt mit seiner Umgebung.
LOU
Aber der Karl-Marx-Hof ist von seiner Umwelt entfremdet, von seinen Bewohnern. Er macht sich selbst zum „Individuum“. Er ist eher ein proletarisches Denkmal, keine Bewegung, hat kein radikales Wesen. Eine Ikone der Reformen, der Emanzipation. Aber ich finde es verwirrend, dass die Emanzipation wieder Theorien produziert und sie versteinert.
GRACE
Jemand sagte einmal: Da kann sich noch so viel ändern, es bleibt doch immer alles gleich.




Szene 5: Die Kritik und ihre Arme


Sie stehen auf, tauschen ihre Plätze und LOU setzt sich hin. GRACE schaut ins Publikum und spricht in einem belehrenden Ton.

GRACE
Ich erkläre dir das jetzt mal, wie das wirklich mit der Ideologie ist. Ich denke, es ist kein Individuum, sondern ein paradoxes Subjekt. Es unterwirft seine Untertanen: Die Menschen, die darin wohnen. Aber es definiert sich auch als „das“ Subjekt. Nicht wie „Gott“ in religiösen Ideologien, in denen die Unterwerfung der Menschen Zitiert mit ihren Fingern, spricht lauter. „dem Subjekt unterliegt“. Setzt sich hin.  Aber durch das Wiedererkennen der Subjekte untereinander und schließlich durch das Wiedererkennen des Subjektes als sich selbst. Es ist keine universelle Sicht. Die Anrufung des Karl-Marx-Hofes als Individuum schafft aus ihm ein Subjekt, das auch ihn selbst unterwirft.
LOU
Was meinst du damit?
GRACE
Ich meine, du konstituierst alle diese Semantiken, obwohl der Karl-Marx-Hof auch ohne sie existiert. Er könnte erneuert werden, neue Bedeutungen gewinnen. Er ist ein historisches Konstrukt, aber nicht so massiv ideologisch wie du sagst. Du argumentierst abstrakt und übersiehst die Realität. Außerdem ist der Karl-Marx-Hof kein Symbol oder kein gutes Beispiel für die Gemeindebauten in Wien. Während der Hof zur Verkörperung der Ideen wurde, hat er seine Fähigkeit verloren, gute Lebensbedingungen zu schaffen, wie du bereits erwähnt hast. Ich finde es auch absurd, dass sie, Zeigt. die Wohnanlage ist, über die am meisten diskutiert wird, obwohl sie nicht die Realität der Gemeindebauten zeigt.

Sie halten einen Moment inne.

GRACE
Weißt du, ich glaube nicht, dass Ideologie so einfach ist wie "Sie wissen es nicht, aber sie tun es." Weil es keinen anderen Weg gibt. Ich denke, es ist genau das Gegenteil: "Sie wissen es sehr gut, aber sie tun es trotzdem." Es ist nicht das, was du denkst, sondern das was du tust.

Sie halten einen Moment inne.  GRACE beginnt wieder zu sprechen.

GRACE
Im Großen und Ganzen gab es zu dieser Zeit eine lange Debatte darüber, wie diese Wohnanlage aufgebaut werden sollte. Ich denke, sie war mit Abstand der am meisten diskutierte Entwurf. Ziel war es, die Ideale des Austromarxismus unter einem Dach zu vereinigen. Deshalb entschied man sich gegen das Gartenstadt Konzept. Es war wichtig mehr zusammenhängende Grünflächen als miteinanderverbundene Blöcke zu schaffen. Daher denke ich, dass es kein Konzept ist, das man direkt mit der Ideologiekritik der Form vergleichen kann.
LOU
Man sollte die Situation der Sozialdemokraten nicht vergessen: Sie mussten gegen zwei politische Parteien kämpfen: den bürgerlich-rechten Flügel auf der einen Seite und die kommunistische Partei auf der anderen Seite. Und sie suchten nach einer Alternative zur Ideologie: reine Wissenschaft. Eine Theorie, die sich nicht auf das davon abhängige ideologische Phänomen bezieht, sondern eine Theorie, der objektive sozioökonomische Realität zugrunde liegt. Es ging auch darum, eine Lektion über die Emanzipation für die sozial unterrepräsentierten Gruppen zu finden.
GRACE
Nun, um deine Ideologiekritik ideologisch zu kritisieren Lächelt., obwohl du es vielleicht nicht hören willst, ist es wichtig, die Ziele des Austromarxismus zu verstehen. Ich denke, sie haben die Arbeiterklasse nicht als politische Einheit gesehen, um eine Polemik gegen die Bourgeoisie zu entwickeln. Statt wirklich Wissenschaft zu betreiben haben sie Utopien schaffen wollen. Für diese Utopien haben sie sich an der bürgerlichen Kultur orientiert. Und damit ist sie ein Widerspruch zwischen der Arbeiterklasse und der Kultur, einer Kultur, die keine Arbeiterkultur ist. Die Sozialdemokraten wollten die Kultur des Volkes zur Arbeiterkultur machen. Aber wie ist das möglich?
LOU
Althusser sagte einmal, dass die Arbeiter in der Fabrik sind und produzieren, und die Intellektuellen sind in ihren Zimmern. Sie produzieren Gedanken, um die Arbeiter zu emanzipieren. Die Intellektuellen denken für die Arbeiter. Ich denke, eine Architektin, die im Bereich der Ideen arbeitet, schafft „intellektuelle Arbeit“, die der Arbeit einer Tischlerin ähnlich ist, die Möbel herstellt.
GRACE
Sprich weiter.
LOU
Eine Arbeiterin in einer Fabrik, die nur einen Teil eines Produkts herstellt, besitzt das Produkt nicht. So verkauft sie ihre Arbeitskraft gegen Lohn. Die Architektin ist auch nur eine Arbeiterin, die an einem Projekt arbeitet, aber sie besitzt es nicht. Das könnte ein Argument sein, um das Ziel des Austromarxismus „eine Arbeiterkultur zu schaffen“ zu verstehen.
GRACE
Macht es Sinn hier zu hinterfragen, ob es sich um Arbeiterkultur oder eine Kultur für alle handelt? Austromarxismus, wenn wir bei dieser Theorie bleiben, scheitert schon im Aufbau.
LOU
Ja?
GRACE
Die Formen wurden der bürgerlichen Architektur entnommen. Ich denke, dass die Austromarxisten entweder widersprüchliche oder nicht emanzipatorische Ziele hatten. Erstens, Sie wenden die Formen und die Qualität des Wohnens auf die Arbeiterklasse an und geben sie ihr, ohne eine neue Kultur zu schaffen. Sie sagen implizit: „Nehmt diese bürgerliche Kultur und macht sie zu eurer, das ist das Beste für euch.“ Wie eine Ringstraße des Proletariats: Der Gürtel. Otto Wagners monumentale Architektur wird der Arbeiterkultur aufgezwungen, sagen sie. Ist das wirklich so? Ist eine solche Architektur emanzipatorisch oder imposant? Und zweitens geht die bürgerliche Klasse davon aus, dass sie weiß, was am besten für die Arbeiterklasse ist. Ihr Argument ist: „Die Arbeiter haben keine Zeit zu denken, weil sie arbeiten. Sie kümmern sich um ihre Angelegenheiten.“ Deshalb denke ich, dass es nicht korrekt ist, die intellektuelle Arbeit auf das gleiche Niveau zu stellen wie die Arbeit in einer Fabrik.
LOU
Sieht aufgeregt aus.
GRACE
Es ist also nicht notwendig, verschiedene Formen von „Arbeit“ zu nivellieren, um etwas Emanzipatorisches zu schaffen.
LOU
Du hast Recht.
GRACE
Wenn es um Kritik geht, dann sollte es nicht nur um architektonische Formen und Ideologien gehen, sondern auch darum, ob diese kommunalen politischen Reformen emanzipatorisch oder nicht sind. Stoppt. Sie verursachen einen Bruch in der Gesellschaft, obwohl ihr Ziel darin besteht, Gleichheit herzustellen und die Spaltung der Klassen zu reduzieren. Das ist, was sie anstreben, denke ich. Aber die Austromarxisten haben es nicht geschafft, dieses Ziel zu erreichen.
LOU
Ja.
GRACE
Zum Teil hast du ja doch Recht.
LOU
Hmm?
GRACE
Der Karl-Marx-Hof hat versäumt, den eigenen ästhetischen Charakter der Sozialdemokratie zu finden. (Cf. Blau 2014: 20f.)

LOU hat ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht.

GRACE
Seine lokalen Referenzen bestehen in historischen Anspielungen. Er ist sowohl aus technologischer als auch aus typologischer Sicht regressiv.
LOU
Tatsächlich. Tafuri sagte einmal, dass die Kritikerin wie die Person ist, die beschlossen hat, auf einem festen Seil zu laufen, während ständig wechselnde Winde ihr Bestes tun, um sie niederzublasen.

Sie halten an, nicken. Beide stehen auf, LOU hebt ihre Hand, als wollte sie etwas sagen.

LOU
Dein Verhalten berührt mich.
GRACE
Schaut verwirrt. Welches Verhalten?
LOU
Dein Wille mit mir über meine Ideologiekritik ideologisch zu diskutieren.

GRACE schaut weiter verwirrt.

LOU
Um meine Argumente zur Absurdität zu bringen, wurdest du so ideologisch wie ich.
GRACE
Wirft einen Blick durch den Karl-Marx-Hof, ignoriert LOU.
LOU geht nach links, GRACE nach rechts, sie schnappen sich ein Stück Kreide vom Boden und gehen zu den Kindern. Sie zeichnen auch Karl-Marx-Hof-Symbole. GRACE unterbricht die Stille.
GRACE
Du weißt, dass wir nur etwas Zeit mit Kindern verbringen, mit ihnen spielen, sonst nichts, oder? Stoppt. Jemand sagte einmal: Da kann sich noch so viel ändern, es bleibt doch immer alles gleich.

LOU hält einen Moment inne, schaut in die Ferne und nickt dann.

LOU
So sei es.


ENDE 

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